Dr. Friedrich Glasl ist ein österreichischer Politikwissenschaftler und Psychologe, Organisationsberater der Trigon-Entwicklungsberatung, Professor und Konfliktforscher. Er ist der Entwickler des Eskalationsstufen-Modells und international als Berater und Mediator tätig.
Was sind Ihrer Meinung nach markante Meilensteine in der Entwicklung der Mediation?
Mediation, in der klassischen diplomatischen Kunst des Friedensstiftens, ist schon über 5.000 Jahre alt. Aber etwa 1920 kam es in den USA dazu, dass Mitglieder verschiedener kleiner Kirchen irgendwie beschämt festgestellt haben, dass viele Streitigkeiten unter Mitgliedern derselben Kirche vor Gerichten gelöst wurden. Und da kam die Frage auf, ob sie ihre Konflikte nicht aufgrund ihres gemeinsamen Wertesystems untereinander einvernehmlich, gütlich im christlichen Verständnis lösen können. So wurde um 1920 in verschiedenen kleinen Kirchen „Conciliation“ (Versöhnung) eingeführt. Eine ganz eigene Methodik, nicht viel beschrieben, aber immerhin gab es das erste Mal überhaupt Regeln als Basis der Kunst des Friedensschlusses.
Später dann – vor allem durch die Forschungsarbeit während des zweiten Weltkrieges und danach – wurden wichtige Erkenntnisse aus der Psychologie, der Kommunikationswissenschaft, aus Psychotherapie und Consulting als Praxistheorie zusammengeführt und haben Conciliation angereichert. So wurde aus einer ursprünglich mehr verhandlungsbasierten Mediation, also einer diplomatischen Vermittlung, Mediation im modernen Sinn.
Anfangs auf Zweipersonen-Konflikte, Ehepartnerschaften, Familienkonflikte ausgerichtet, mündete ein zweiter Strom, nämlich die Organisationsentwicklung, in das Konfliktmanagement.
Das war abgestimmt auf Konflikte in Organisationen, wo Beteiligte, Beraterinnen oder Berater auf Konflikte gestoßen sind, oder wo diese durch Veränderungsansätze ausgelöst wurden. Manchmal mussten auch erst Konflikte gelöst werden, bevor strukturelle Ablaufänderungen möglich waren. Das hat zum Konfliktmanagement und zur heutigen Wirtschaftsmediation geführt
Später flossen noch Erweiterungen, Vertiefungen und Ergänzungen von der systemischen Familientherapie in die Mediation ein. Was sich als fruchtbar erwiesen hat, sowie die ganze systemische Beratungsmethodik.
Können Sie bitte auch kurz die Geschichte der Entstehung der Eskalationsstufen beschreiben?
Da muss ich ein wenig ausholen: Ich hab erst Politikwissenschaften (und im Nebenfach Sozialpsychologie) studiert und meine Doktorarbeit war auf die Frage ausgerichtet, was können neutrale Länder tun, wenn sie Mitglied der UNO sind, um Konflikte zu begrenzen. Einerseits in der Eskalation, bevor es zu Gewalt kommt oder, wenn es schon zu kriegerischen Handlungen gekommen ist, diese wieder zu de-eskalieren und Friedensprozesse einzuleiten.
Die damaligen diplomatischen Gepflogenheiten, also abgestufte diplomatische Maßnahmen, umfassen den Protest, dann beruft man den Botschafter zu sich, bis zu Repressalien und Embargo oder weiteren verschiedenen Sanktionsmaßnahmen, wie etwa den Wirtschaftsboykott oder Waffenembargo.
Diese Kenntnisse brachte ich aus der internationalen Politik mit. Dann hat sich für mich die Gelegenheit ergeben, in ein Beratungsunternehmen in den Niederlanden einzusteigen, das schon seit 1954 Organisationsentwicklung betrieben, erforscht, praktiziert und gelehrt hat. Dort bekam ich Aufträge, Konflikte in Organisationen als Berater zu begleiten, im Sinne des Konfliktmanagements, wie es von der Organisationsentwicklung als Know-how bekannt war und praktiziert wurde. Und ich hab geschaut, ob das, was für internationale Politik erforscht und beschrieben war, auf Organisationen übertragbar ist. Zum Teil ging das, zum Teil nicht.
In dieser Zeit also 1966/67 kamen viele Entwicklungen, Konzepte, Modelle, Instrumente, Methoden aus der Organisation und dem Konfliktmanagement – von Mediation war noch keine Rede. Damals wurden immer wieder verschiedene „neue“ Methoden als Allerheilmittel vorgestellt. Diese habe ich in verschiedenen Situationen angewandt. Und einmal hat es geholfen und einmal überhaupt nicht.
Deshalb habe ich mich gefragt, woran das liegt? Wie unterscheiden sich die Situationen, denn die Methoden waren ja die gleichen und ich war immer derselbe. Ich begann auf Unterscheidungsmerkmale zu achten. Und es war die Intensität des Konfliktes. Dazu gab es aus der internationalen Konfliktforschung etwas, aber nicht viel. Dadurch habe ich dann darauf geachtet, auf welcher Intensitätsstufe der Konflikt liegt und was in der Situation geht oder nicht geht. So habe ich dann immer mehr unterschiedliche Intensitätsstufen beschreiben und nutzen können. Das war ausschlaggebend für das Modell. Schlussendlich habe ich ganz einfache Fragen zu stellen gelernt:
Erinnern Sie sich an besonders dramatische Momente in Ihrer Konfliktgeschichte? Meistens bestanden die Konflikte ja schon längere Zeit.
Beschreiben sie mir für jeden dramatischen Moment, wie es vorher war, was war vorher erlaubt und was war nicht erlaubt, was war dann später erlaubt und nicht erlaubt?
Dann später weitere dramatische Momente.
Und aus dieser Erzählung, aus dem Erleben der Beteiligten, hat sich ganz schlüssig und stimmig ergeben, dass alle implizite ungeschriebene Spielregeln beschrieben: Wenn man das und das beachtet, dann bleibt der Konflikt auf gleichem Niveau und eskaliert nicht weiter.
Das hab ich dann mehr und mehr systematisch, empirisch getestet und Fragen und Instrumente dazu entwickelt. Das Modell ist dann zwischen 1975 und 1977 gereift, wo alles einfloss, was ich an einigen hunderten Echtsituationen erforscht hatte.
Wie wichtig und zukunftsfähig ist das Thema Mediation für unsere Gesellschaft heute aus Ihrer Sicht?
Ich glaube, sehr zukunftsfähig. Ich beschäftige mich ja schon lange mit dem Thema und sehe, dass der Bekanntheitsgrad der Mediation wächst. Es gibt kaum noch jemanden, der nicht irgendwann mal was von Mediation gehört hat. Auch wenn’s manchmal falsch ist. Aber sie wissen, es gibt eine Alternative zum Durchkämpfen vor Gericht oder Kämpfen bis zum bitteren Ende.
Insofern zieht Mediation mehr und mehr in allen möglichen Lebensbereichen ein. Man kann mitwirken an einer Konfliktlösung, die nach heutigem Verständnis in Richtung Win-Win geht. Ich beobachte, dass Mediation heute in ganz neuen Anwendungsfeldern praktiziert wird. In manchen Bereichen gibt es dazu bereits von vornherein eine Vertragsklausel, z.B. im Baugewerbe. Ich kenne auch viele im Kunden-Lieferantenverhältnis, die diese Klausel übernommen haben. Denn sie sind am Aufrechterhalten einer guten Beziehung interessiert. Und was bringt es, wenn man zwar den Rechtsstreit gewonnen hat, aber den Kunden oder Lieferanten verliert. Auch Versicherungen nutzen das sehr mit ihrer eigenen Klientel.
Und gesellschaftlich beobachte und fördere ich das auch, dass schon in vielen Schulen Mediation, Streitschlichtung und so weiter praktiziert werden. Je früher Menschen das auf ihrem normalen Bildungsweg kennen lernen, desto mehr werden sie es später im Berufsleben erinnern.
Wie sehen sie Mediation in Deutschland im internationalen Vergleich?
Ich habe für die Zeitschrift Perspektive Mediation einen Vergleich Mediation in West und Nordeuropa geschrieben. Darin habe ich festgestellt, verschiedene Länder haben verschiedene Best Practices. Beispielsweise ist meines Erachtens die Schweiz führend bei Mediation im öffentlichen Raum. Wie etwa Schottergrube und Anrainer, Autostraße durch Naturschutzgebiete usw. Für die Schweizer ist es selbstverständlich zu sagen, wir schließen Kompromisse und handeln diese aus. In den Niederlanden ist ein Bereich sehr entwickelt, nämlich Mediation zwischen Steuerzahler und Finanzamt. Beispielsweise für kleine und mittlere Betriebe, die in Liquiditätsengpässen stecken. Würde die Steuerbehörde darauf bestehen, dass diese Firmen sofort zahlen auch wenn der Ruin droht, würden sie das Huhn schlachten, das goldene Eier legt. Sie finden eine Regelung im Interesse der Finanzbehörde unter Achtung des rechtstaatlichen Prinzips und der Gleichbehandlung, aber auch so, dass es für den Betrieb leistbar ist.
In Österreich ist die Scheidungsmediation sehr weit fortgeschritten. Und Österreich ist führend – und zwar schon lange – in der sogenannten Strafrechtsmediation, im Außergerichtlichen Tatausgleich bzw. der Täter-Opfer-Mediation. Das ist sogar ein Exportprodukt geworden. Den Pionier dieser Disziplin, Georg Zwinger, hat man von Salzburg nach Baden-Württemberg geholt, damit er das Modell an hiesiges Recht anpasst und entsprechend weiterentwickelt.
In Deutschland ist Mediation im ganzen Bausektor sehr weit entwickelt. Auch die Sportmediation ist in Deutschland sehr groß. Und heute durchaus auch die innerbetriebliche Mediation. Weiter als beispielsweise in Schweden. In Schweden liegt der Schwerpunkt in der Mediation zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Behörden, egal auf welcher Ebene. Aber interessanter Weise nutzen sie in Schweden Mediation so gut wie nicht innerhalb des Ministeriums. In Deutschland erlebe ich Mediation zwischen Behörden und Bürgerinnen und Bürgern als unterentwickelt. Auch die Ombudsfunktionen sind nicht so entwickelt wie zum Beispiel in der Schweiz oder in den Niederlanden oder in noch anderen mitteleuropäischen Ländern.
Belgien ist diesbezüglich ein Entwicklungsland. Das sagen die Belgier selber auch. Man hat einfach gewisse Entwicklungen verschlafen und schaut mit Bewunderung in die Niederlande, wo sich die Szene sehr gut entwickelt hat. Vor allem die Mediationsszene bei Menschen, die nicht aus juristischen Berufen kommen. In Belgien ist Mediation sehr stark juristisch geprägt, es gibt Richter-Mediatoren, Anwalts-Mediatoren, Notar-Mediatoren und „Sonstige Mediatoren“. Alles was psychologisch und prozesshaft an der Mediation ist, ist etwas unterbelichtet.
Wie bewerten Sie das heute vorhandene Verständnis zum Thema Mediation in Deutschland?
Mir sind keine aktuellen Befragungen bekannt, aber nach meinem Verständnis, ist es recht gut. In den Niederlanden werden jährliche Befragungen durchgeführt und der Bekanntheitsgrad bei Führungskräften über alle Branchen hinweg liegt heute bei 70%. Vor fünf Jahren lag er unter 50%. Auch wenn manchmal etwas Falsches damit verknüpft wird, wie dies mit den Interventionen von Geißler in Stuttgart 21 der Fall war – das war ja keine Mediation und auch kein Schiedsverfahren.
In Deutschland wäre so eine Befragung gut, um nachzuforschen, wo da Lücken sind und wo gezielt aufgeklärt werden kann. Denn die Berufsverbände machen ja einiges.
In den Niederlanden wurde ich zu einem Gesetzentwurf als Gutachter gefragt, denn ich habe da 19 Jahre gelebt. Zum Thema „angeordnete Mediation“ ist dann mein Artikel erschienen „Von der Freiwilligkeit zur Willigkeit“. Ich denke Freiwilligkeit ist Fiktion, denn in Wirklichkeit findet immer eine Abwägung statt, was die Vor- und Nachteile einer Mediation sind, welche Konsequenzen es hat, wenn ich mich der Anordnung entziehe usw. Wenn zumindest diese „Willigkeit“ zu Beginn da ist, liegt es nur noch an uns als Mediatorinnen und Mediatoren, dass wir so arbeiten, dass die Konfliktparteien aus Einsicht Lösungen erarbeiten, an die sie sich dann halten – auch wenn sie ihnen nicht ideal erscheinen.
Wie unterscheidet sich die Mediation von anderen Konfliktlösungsmethoden?
Hier muss ich auf meinen sogenannten kontingenztheoretischen Ansatz verweisen. Ich sage, je nach Eskalationsstufe und noch ein paar anderen Situationsmerkmalen, stellt sich die Frage, welche Art von Mediation – wenn Mediation überhaupt – erfolgversprechend ist. Es ist nicht für alle Situationen die gleiche Art von Mediation sinnvoll. Deshalb bin ich zu der Eskalations-Studie gekommen: Warum wirkt eine bestimmte Art der Mediation hier und nicht dort?
Wenn die Eskalation schon sehr weit fortgeschritten ist, ist es immer noch besser, sich auf ein Schiedsverfahren zu einigen, auf ein Schlichtungsverfahren. Das von Geißler ging in die Richtung, war aber nicht korrekt, weil er sich vorab keine Unterwerfungserklärung von den Parteien geholt hat. Damit waren seine Ausführung interessant aber nicht bindend – und es geht ja um bindende Sprüche.
Die meisten Mediationsausbildungen lehren die Mediation für die Eskalationsstufen 1 bis 3, manchmal noch bis hin zu 4. Da kann man wieder zur Sachebene übergehen, wenn alles geklärt ist.
Aber wenn der Vertrauensbruch tief geht und durch Gesichtsangriff Gesichtsverlust aufgetreten ist – nämlich Eskalationsstufe 5 –, da ist die herkömmliche Mediation nicht ausreichend. Hier gibt es system-therapeutische Mediation. Die muss tiefer auf Fragen der Werte, der Glaubwürdigkeit und der Vertrauenswürdigkeit eingehen und auch Identitätskrisen bearbeiten. Sowohl auf der individuellen als auch auf der Kollektivebene. Dann gibt es die klassische diplomatische Vermittlung, die ja eigentlich eine Dreiecksverhandlung ist, weil die Konfliktparteien auch mit dem Mediator verhandeln. Die Mediation heutiger moderner Prägung sagt, wenn es irgend geht, sind die Gespräche mit allen zusammen gleichzeitig zu führen und der Mediator bringt keine eigenen Lösungen ein, und vor allem erzeugt er keinen Druck. Das gilt für die diplomatische Vermittlung nicht. Dort macht er deutlich „Hier kommen wir so nicht weiter“ oder „ich mache einen Vorschlag zur Güte“, und dann kommt mit Nachdruck sein eigener Vorschlag. Und bevor er abbricht, einigt man sich. Wird übrigens auch bei der Strafrechtsmediation so praktiziert. Das ist eine starke Intervention, die aber berechtigt ist, denn wir haben einen Konflikt auf der Eskalationsstufe 6/7.
Dann gibt es die Shuttle Mediation, wo der Mediator jeweils nur mit einem spricht, der ihm seine Schmerzgrenze anvertraut. Mit dieser Kenntnis geht der Mediator dann zur gegnerischen Partei. Das ist immer noch besser als wenn sie sich gegenseitig umbringen. Oder es kommt auf den Stufen 6, 7 und 8 eine Schiedsstelle ins Spiel.
Geißler hätte Mediation und Arbitration (steht für einen juristischen Schiedsprozess) kombinieren können, die sogenannte MedArb. Da hätte er dann von vornherein Folgendes vereinbart: „Ich bin bemüht diesen Konflikt unter ihrer aktiven Beteiligung mediativ zu lösen. Sollten wir da in eine Sackgasse geraten, erklären Sie, dass Sie mir zugestehen, dann einen verbindlichen Schiedsspruch zu sprechen. Aber ohne A-priori-Erklärung geht das nicht. Und nach Prozessrecht in Deutschland und der Schweiz hat das denselben Stellenwert wie ein Gerichtsentscheid erster Instanz und gilt auch entsprechend.
Das sind Formen, die je nach Situation angebracht sein können. Das muss man sehr differenziert anschauen. Und jede Pauschalaussage, Mediation ist für alles gut oder auch nicht, passt nicht.
Warum ist Mediation für Sie persönlich ein guter Weg zur Einigung?
Weil er die Eigenverantwortung der Menschen anspricht. Und diese sind dadurch vielmehr Gestalter ihres Schicksals. Ich bin von der Mündigkeit der Zivilgesellschaften überzeugt. Und ich bin auch dafür, dass der Staat nicht ständig Detaillösungen geben muss, sondern Vertrauen in den gesunden Menschenverstand haben kann. Wie es auch im angloamerikanischen Rechtsverständnis viel mehr der Fall ist.
Macht es Sinn, ein Mediationsgesetz zu haben, und wenn ja, wieso?
Österreich hat 1991 ein Mediationsgesetzt eingeführt und später noch einige Male novelliert. Das entspricht Österreichischer Rechtskultur, alles zu regeln und nichts dem Bürger zu überlassen. Das führte zu Überregulierungen in Österreich. Aber was gut war, man hat viele Dinge nur im Sinn von Rahmenregelungen festgelegt und Gestaltungsräume gelassen.
Wenn ich auf neuere Gesetze aus Deutschland schaue, sind bestimmte Regelungen für Scheidungsmediation gut, aber für Organisationsmediation oder öffentliche Mediation nicht mehr. Die kann man nicht alle über einen Kamm scheren. Das ist das Problem der Uniformität. Natürlich ist es wichtig, rechtliche Standards zu setzen und die Gleichbehandlung und Gleichberechtigung zu garantieren, aber man muss auch unterschiedliche Dinge unterschiedlich behandeln können und nicht Unterschiedliches nach ein und derselben Norm.
Welche Faktoren sind ihrer Meinung besonders entscheidend, damit eine Mediation erfolgreich wird?
Eigentlich entscheidet sich in den ersten Schritten – in dem was in den Lehrbüchern Prämeditation genannt wird, ein Begriff den ich nicht nutze, denn für mich ist das schon ein Teil der eigentlichen Mediation. Ich spreche liebert von der Orientierungsphase. Hier treffe ich Regelungen und handle gute Rahmenbedingungen für die Mediation aus und prüfe die Willigkeit – nicht die Freiwilligkeit. Das kommt in vielen Ausbildungen aber auch in der Literatur häufig zu kurz. Wenn bei einem komplexen Konflikt – das was ich die Orientierungsphase nenne – gut gelungen ist, dann muss ich schon sehr ungeschickt sein, damit die Mediation dann noch schief geht. Denn ich hab mich da in meiner Rolle und Glaubwürdigkeit profiliert. Und die Parteien haben auch gelernt, ihre Rolle zu finden – mir und einander gegenüber. Also es hängt ganz viel von der Orientierungsphase ab.
Je nach Eskalationsgrad, muss ich manchmal sehr rigide Konditionen nennen. Zum Beispiel Status-Quo-Regelungen für die Zeit, während die Mediation läuft: absolutes Friedensgebot, keinerlei Kampfmaßnahmen parallel zur Mediation, sei es über den Betriebsrat oder Anwältinnen oder Anwälte, auch keine Personalentscheidungen, also Status Quo. Oder sogar Status-Quo-Ante-Regelungen. Beispielsweise wenn eine Woche vor der Mediation, noch schnell der Vorstand eine Entscheidung durchgedrückt hat, die wesentlich zur Eskalation beigetragen hat. Wie etwa Organisations- oder Strukturänderungen oder personelle Änderungen. Dann kann es meine Forderung sein, dass die Entscheidung suspendiert wird und erst nach Abschluss der Mediation bekräftigt oder neu verhandelt wird. Also wird vorübergehend der Status wieder hergestellt, wie er vor diesen Entscheidungen war. Davon hängt auch sehr viel ab.
Für den Erfolg ist entscheidend, ob ich artgerechte Mediation mache. Also der Eskalationsstufe und dem Fall sowie den Besonderheiten der Situation gerecht werde.
Auch spielt es eine Rolle, wie gut es gelingt, während des ganzen Prozesses zwischen mir als Mediator und den Klienten ein Vertrauensverhältnis herzustellen, in dem mein Vorgehen reflektiert und mir Feedback gegeben wird. So wachsen Ehrlichkeit und Vertrauen.
Existieren besondere Risiken, um eine Mediation durchzuführen?
Wenn ich an die mehrere hundert Fälle denke, die ich in den 48 Berufsjahren mediiert habe, insbesondere solche, wo der Prozess über einige Zeit notwendig war, gibt es ein ethisches Problem: Besteht nicht doch auf Seiten der Auftraggeber eine „hidden Agenda“? Zum Beispiel: „Vielleicht kann über Mediation dieser oder jener lästige Mitarbeiter endlich entsorgt werden.“
Einmal meinte ich nach einer Diagnose, eine Mediation könnte gerade beginnen, und hab zusammen mit den Beteiligten dem Auftraggeber kurz berichtet. Und da sagte der Vorstand einer Stiftung in einem psychiatrischen Umfeld: „Sehr gut, Herr Glasl, schicken sie die Rechnung. Die Mediation ist hiermit beendet.“ Tatsächlich hätte sie erst richtig beginnen sollen. Für den war nur wichtig einzuschätzen, wie groß ist das Risiko, wenn er jetzt bei bestimmten Personen durchgreift: Laufen dann die besten Leute weg? Wird der Betrieb lahmgelegt oder nicht? Und die Einschätzung hat nach Meinung des Vorstands ergeben, die sind so zahm, lieb und nett, da gibt es keinen Aufstand.
Die Klienten haben immer Risiken. Ist die Person des Mediators vertrauenswürdig? Verspricht sie das Blaue vom Himmel? Wie ist es mit der Vertraulichkeit, gibt es nicht doch geheime Berichte? Deshalb ist es mir ganz wichtig zu erfahren, ob es an irgendeine höhere Stelle Berichte gibt. Wenn ja wie, mit wem? Meine Standardformel dabei ist: Ich kann über mein methodisches Vorgehen berichten, aber alles Inhaltliche geht nur mit den Beteiligten selbst. Da müssen wir dann Formen finden, bei denen es passt. Zum Beispiel kann der Vorstand mit mir und den drei Kernpersonen klären, wie der Stand der Dinge ist. Und die berichten dann: „Ja, wir können wieder miteinander reden.“ Und vorher habe ich mit denen zusammen eine Sprachregelung gefunden, damit nicht in der Sitzung mit dem Vorstand der eine oder andere etwas sagt, was vielleicht belastend für den einen oder anderen sein könnte. Das hat eigentlich so gut wie immer funktioniert.
Wann immer Angst im Spiel ist – egal ob es berechtigte Angst ist oder nicht –, ist es die, von Beratern reingelegt zu werden, die dann doch geheime Berichte mündlich oder schriftlich an irgendjemanden abgeben. Was dann auch zu personellen Veränderungen – z.B. Entlassungen führen kann.
Welche ist Ihre schönste Erfahrung mit Mediation aus der Praxis?
(Glasl lacht) Die schönste Erfahrung in einer Mediation gibt es natürlich nicht. Aber ich hatte vor kurzem eine Mediation zwischen einem Schweizer Immobilienunternehmen plus Architekten und einem Kunden aus einem Euroland, da sah es ganz schlimm aus. Mit der Frankenaufwertung war plötzlich die ganze Immobilie in der Schweiz 20 Prozent teurer geworden.
Beide Parteien hatten sich schon gegenseitig mit Anwälten beschossen. Erst dann haben sie sich beide darauf geeinigt, es doch mit Mediation zu versuchen. Der aus dem Euroland war ein deutscher Unternehmer, mit dem ich schon zu tun hatte. Es ging dabei um mehrere Millionen. Und bei 20% Anstieg der Kosten, stellt sich die Frage, ob man das noch so wegstecken kann.
Die Medianden waren an sich befreundet. Sie hatten zusammen schon tolle Dinge getan und immer zur vollsten Zufriedenheit. Immer war alles wunderbar transparent und ehrlich gelaufen. Hut ab! Und es waren auch noch weitere Aufträge in Vorbereitung. Damals haben wir um 9.00 Uhr vormittags begonnen und beide Parteien hatten ihren Anwälten signalisiert, dass sie erreichbar sein müssen.
Keiner von beiden hat von dieser Frankenaufwertungen wissen können oder sie gewünscht. Die Frage war, wie gehen wir damit um?
Es herrschte eisige Kälte und es lief auf Zerstörung hinaus, und jeder dachte vom anderen: „Der macht mich fertig!“ Aber um 15.00 Uhr haben sie sich umarmt und beide Seiten waren in Tränen. Ihre Freundschaft war wieder bekräftigt und die finanzielle Regelung war getroffen.
Mir fallen von den komplexen Situationen einige ein, aber eine ganz besonders. Es handelte sich um eine große Beratungsfirma mit hochqualifizierten Leuten. Und der Konflikt lag auf Stufe 7. Es ging also wirklich darum, einander Stück für Stück kaputt zu machen – aber noch ging es nicht um totale Zerstörung.
Es handelte sich um eine quasi staatliche niederländische Beratungsorganisation für Schulen und das ganze Bildungssystem. Forschung, Beratung und Training sowie Lehrmittelentwicklung und dergleichen, also wirklich hochqualifizierte Leute aus dem Unterrichtssektor. Aufgrund der Konflikte hatte der Minister schon den Beschluss gefasst, die Organisation wieder aufzulösen. Die war aber durch die Rechtsform der Stiftung quasi autonom.
Die Entscheidung war getroffen, es gibt nichts mehr zu retten. Es folgte ein sehr intensiver Prozess, erst Mediation und dann Organisationsentwicklung. Diese Organisation wurde anschließend in ganz Holland zum Vorzeigeinstitut. Denn wir hatten durch diesen Prozess eine Struktur in der Strategie, in der Beratung und dem Training gefunden, die vorher undenkbar gewesen wäre. Es wurde zum Modell für alle Provinzen.
Vorher lag ein ganz existentieller Konflikt vor. Von den Beteiligten hieß es: „Ich schlafe nicht mehr.“ „Immer dieser Stress.“ „Die ganze Lust an der Arbeit ist mir vergangen.“
Die haben dann wirklich außergewöhnlich intensiv gearbeitet. Auch unter Einbindung ihrer Klientel. Vorher waren sie oft in den Medien gewesen, mit dem Tenor „Verschwendung öffentlicher Mittel“. Und im Nachhinein, war es dann DAS anstrebenswerte Beispiel.
Aber es gibt natürlich auch Enttäuschungen. Ich hatte voriges Jahr vor Weihnachten eine ganz schwierige Mediation in England, die leider nicht gelungen ist. Ich meine, das Schlimmste wurde verhütet, die Auflösung. Da ging es um Heime für Behinderte in einer Dorfstruktur. Eine Stiftung, die das ganze geleitet hat. Dort gab es Streit und BBC hat laufend berichtet.
Und leider ist mir das, was ich für möglich gehalten hätte, nicht gelungen, nämlich wieder vertrauensvoll miteinander umzugehen und die Organisationsprobleme gemeinsam und nicht gegeneinander zu lösen. Immerhin haben sie ihre schlimmsten Drohungen nicht umgesetzt. Aber sie sind zu Gericht gegangen, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Und bei Gericht wurde natürlich nur schmutzige Wäsche gewaschen. Das war schlimm. Besonders weil es beiden Seiten im Endeffekt geschadet hat.
Muss man Jurist sein, um ein guter Mediator zu sein oder könnte das sogar kontraproduktiv sein?
Könnte schon. Als nicht juristischer Mensch dürfen sie ja gar keine juristischen Ratschläge erteilen. Das wäre ja Kurpfuscherei.
Aber es ist gut, ein Grundverständnis in Familienrecht, Unternehmensrecht oder Aktienrecht u.dgl.m. zu haben. Aber nicht wirklich spezialistisch juristisch. Doch wenn mal Begriffe durch die Luft fliegen, was ist der Unterschied zwischen Haftung und Verantwortung oder irgendwas, sollte man diese verstehen.
Es war ja so, dass in Österreich 1991 das erste Mediations-Gesetz eingeführt wurde. Wer hat das Gesetz entworfen? Juristen. Und die haben das natürlich sehr stark pro Domo ausgerichtet. Sehr betont wurden die juristischen Kenntnisse, die erforderlich seien. Erst später hat man dann auch die Nicht-Juristen dazu geholt. Die haben die Entwürfe dann gelesen und redigiert. Aber es war am Anfang, sehr jura-lastig. Später hat man das Gesetz dann ausbalanciert. Juristen haben allerdings lange Zeit behauptet, sie hätten ja schon immer Mediationen durchgeführt, wie einen Vergleich vor Gericht. Richter, Notar und Anwalt-Mediatoren haben Mediation für sich beansprucht. Die Sonstigen mit ihrem psychologischen Hin und Her wurden nur geduldet. Aber eigentlich fand man, sie müssten so ein kleines Magisterium in der Juristerei haben, um wirklich qualifiziert zu sein.
Und in die juristische Mediation sind dann viele Dinge nicht eingeflossen, die für die anderen wichtig sind, wie etwa Teamkonflikte oder interkulturelle Konflikte, da diese ja juristisch nicht relevant sind.
Ich kann mich noch daran erinnern, als ich 1985 von den Niederlanden zurück nach Österreich heimgekehrt bin. Damals wurde ich immer wieder von den Menschen, die sich für die Mediation engagiert haben, zu Vorträgen eingeladen. Juristen bildeten dann auch zur Hälfte das Auditorium. Und die Anwälte sagten immer wieder: „Das ist natürlich eine juristische Domäne.“ Vor allem mit dem HInweis, sie hätten das schon immer gemacht. Aber sie haben nicht erkannt, dass es da einen feinen Unterschied gibt, zwischen dieser Art des Aushandelns und dem Win-Win-Denken in einer Mediation, in der es auch um die Beziehungsqualität geht.
Ist dieses Lagerdenken eventuell auch ein Hindernis?
Ja durchaus. Was ich zum Beispiel in der Mediation sehr betone, ist, dass sich Allparteilichkeit deutlich von unparteilich und überparteilich oder neutral unterscheidet. Das sind verschiedene Begriffe, die auch Verschiedenes bedeuten. Aber ich betone die metaparteiliche, nämlich überparteiliche Haltung sehr. Angenommen es gibt zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber einen Konflikt. Da gibt es oft auch große Interessen dritter Personen. Die Medianden interessieren sich alle nur für ihre eigenen Bedürfnisse. Aber schauen wir mal einen Interessenkonflikt an zwischen Ärzten und Pflegepersonal: Was bedeutet das für den Patienten? Was bedeutet das für die unterstützenden Dienste? Was bedeutet das für die Versicherung und die Stelle, die für die Verlustabdeckung aufkommt? Das ist wichtig aus der Sicht der Stakeholder. Das ist doch eine andere Art zu denken. Nicht Mandant-gebunden. Sondern eigentlich dem Allgemeinwohl gegenüber verpflichtet.
Man sollte viel mehr Ko-Mediationen machen. Der Richter sagt, ich kann machen was ich will, es wird mir immer eine Autorität zugeschrieben. Und der Anwalt-Mediator lässt gegenüber der gegnerischen Partei keine Nähe zu, auch wenn diese zustimmt. Die Notare haben es da leichter.
Grundsätzlich unterscheide ich 6 Kompetenzfelder für die Mediation:
- Persönliche Kompetenz: „Wie gut kann ich selber mit Konflikten und meinen Gefühlen umgehen“
- Sozial-Kompetenz: „Wie gut bin ich darin, Kontakte, Beziehungen zu pflegen und Vertrauen aufzubauen“,
- Methoden-Kompetenz
- Themen-Kompetenz: „Z.B. kenne ich mich mit Fragen des Qualitätsmanagements oder Strategieentwicklung aus? Es können hier auch juristische Fragen eine Rolle spielen.
- System-Kompetenz: Der eine kennt sich gut in Krankenhäusern aus aber nicht in Banken und umgekehrt.
- Feld-Kompetenz: Beispielsweise Gesundheitswesen nicht nur Krankenhaus oder der Bereich Finanzdienstleister, nicht nur Banken. Oder im Mobilitätssektor, Auto, Flugzeug Bahn etc.
Gibt es etwas, was Sie unseren Lesern, also Mediatoren, noch mitteilen möchten?
Ja da gibt es etwas, was uns alle beschäftigt, die Völkerwanderung. Flüchtlingsströme, oder auch andere Themen.
Wir sind in irgendeinem Berufsfeld tätig, tun was wir da tun können. Und ich schätze Menschen die sagen: „Ich bin aber auch noch Zeitgenosse oder Bürger dieses Landes, bin auch noch ein politischer Mensch. Kann ich meine Kompetenz, mein Know-how in irgendeiner Weise auch gesellschaftlich zur Verfügung stellen?“
Nicht nur im engeren Berufsfeld, sondern auf freiwilliger Basis. Zum Beispiel wenn es in einem Auffangzentrum mit Flüchtlingen Probleme gibt, und die gibt es gelegentlich. In bestimmten Grenzen könnte ich ehrenamtlich dem Leiter dieses Zentrums entweder beratend oder mediierend zur Verfügung stehen. So kann man an dem, was sich da tut, regen Anteil nehmen. Das sage ich, weil meine Arbeit in Organisationen sich ja ursprünglich durch mein Engagement in der Friedensarbeit ergeben hat. Ich bin damals in Österreich einer der ersten 10 Wehrdienstverweigerer gewesen. Damals habe ich mir über Krieg Frieden und persönliche Verantwortung Gedanken gemacht und mich entschieden, ich mach den Sanitätsdienst ohne Waffen, aber keinen Dienst mit der Waffe. Das heißt, für mich war das ein persönliches Thema, und ich war immer politisch engagiert. Bevor es den Zivildienst für Kriegsdienstverweigerer gegeben hat, war ich aufbauend tätig und habe den Zivildienst mit entwickelt. Zeitweise als Sekretär des internationalen Zivildienstes, der Friedenseinsätze auch in anderen Gegenden und Ländern organisiert und geleitet hat. Ich war in der Friedensbewegung sehr engagiert.
Das heißt also, fragen Sie sich, wo können Sie sich als Mitmensch bei dem, was vor Ihrer Tür geschieht, auch noch mit Ihren Kompetenzen einsetzen.