Im Gespräch mit Prof. Dr. Horst Eidenmüller zum Brexit

Am 1. Januar 2015 hat Professor Dr. Horst Eidenmüller den Statutory Chair for Commercial Law der Universität Oxford übernommen. Er ist Professorial Fellow am St. Hugh's College in Oxford. Von 2003 bis 28. Februar 2015 war er Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Unternehmensrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München                                                                                                                                                               

Wie sehen Sie den Stellenwert der Mediation in Deutschland?

Die Mediation hat sich als Streitbeilegungsinstrument auch in Deutschland auf niedrigem Niveau etabliert. Da die meisten Mediationsverfahren bei uns ohne institutionelle Begleitung ablaufen, kennen wir deren genaue Zahl allerdings nicht. Vermutlich steigt sie linear leicht an. Größere praktische Bedeutung dürfte nur die gerichtsinterne Mediation durch Güterichter haben.

Dieser Befund ist recht leicht zu erklären: Der deutsche Gesetzgeber setzt keine wirksamen Anreize zur Nutzung der Mediation vor Einleitung eines Gerichtsverfahrens. Mediation ist in Deutschland freiwillig. Auch muss niemand Kostennachteile befürchten, wenn er Vergleichsangebote der Gegenseite ablehnt und dann nach jahrelangem Rechtsstreit zwar größtenteils obsiegt, jedoch auch nicht mehr bekommt, als ihm schon im Vergleichswege angeboten wurde.

Stattdessen will der deutsche Gesetzgeber die Mediation durch die Einführung eines ‚Gütesiegels‘ fördern: Ab Herbst 2017 soll sich ‚zertifizierter Mediator‘ nennen dürfen, wer einen Ausbildungslehrgang mit 120 Präsenzzeitstunden absolviert und eine Mediation mit Supervision durchgeführt hat. Eine Prüfung von Kenntnissen und Fähigkeiten findet aber nicht statt. Auch eine Akkreditierung von Ausbildungsinstituten soll es nicht geben: Auch wer selbst kein Mediator ist, kann zertifizierte Mediatoren ausbilden. Den deutschen Mediationsmarkt wird dies kaum voranbringen (siehe Eidenmüller, NJW-aktuell 46/2016, S. 15).

Sie hatten am 11.10. anlässlich der Eröffnung der Wanderausstellung im Bayr. Landtag  im Rahmen des Festaktes eine viel beachtete Rede zum Thema „Brexit – eine Chance für die Mediation?“ gehalten. Können Sie uns bitte das Ausstiegsszenario erklären?

Maßgeblich für den Austritt eines Mitgliedstaats aus der Europäischen Union (EU) ist Art. 50 EUV. Der Austrittsprozess wird durch eine formelle Austrittserklärung eingeleitet. Danach beginnt eine zweijährige Verhandlungsfrist über ein Austrittsabkommen (AAK). Dieses soll auch den Rahmen der zukünftigen Beziehungen des austretenden Staates zur EU berücksichtigen. Wesentlich sind die Mehrheitserfordernisse für die Annahme des AAK auf Seiten der EU. Neben der Zustimmung des Europäischen Parlaments (mit einfacher Mehrheit) ist auch eine qualifizierte Mehrheit im Rat erforderlich. Zustimmen müssen mindestens 72% seiner Mitglieder, die mindestens 65% der EU-Bürger repräsentieren. Daraus ergibt sich eine Vielzahl denkbarer Blockadekoalitionen. Deutschland und Frankreich können beispielsweise zusammen mit Italien, Spanien oder Polen jedes AAK blockieren. Man kann es auch so formulieren: Das Vereinigte Königreich ist auf einen breiten Konsens der verbleibenden, bevölkerungsstarken Mitgliedstaaten angewiesen. Kommt in der Zweijahresfrist kein AAK zustande, scheidet das Königreich nach Art. 50 Abs. 3 mit Fristablauf einfach aus der Union aus – „Brexit pure and simple“ gewissermaßen.

Neben dem Austrittsabkommen nach Art. 50 EUV muss das Vereinigte Königreich hunderte weitere neue Verträge schließen – mit Drittstaaten, internationalen Organisationen und ggf. auch der EU selbst. Für alle Beteiligten steht viel auf dem Spiel: Es geht um nicht weniger als die politische und ökonomische Zukunft der Union und ihrer (Noch-)Mitgliedstaaten. Im Jahr 2014 war Europa der bedeutendste Handelsraum in der Welt mit einem Anteil von 23,8% des weltweiten BSP, gefolgt von den USA (22,2%) und China (13,4%).

Was ist die Interessenlagen der Beteiligten, zunächst des Vereinigtes Königreichs?

Das Land möchte politische Souveränität zurückgewinnen. An erster Stelle steht insoweit der Wunsch nach einer Kontrolle der Einwanderung. Das Brexit-Referendum wird von Premierministerin May aber auch als Votum gegen die Globalisierung und ein „Europa der Eliten“ gedeutet. Die neue britische Regierung strebt ein gerechteres Gesellschaftssystem an. Schließlich hat das Land aber auch ein Interesse daran, den Zugang zum Binnenmarkt bei möglichst geringen finanziellen Beiträgen soweit wie möglich aufrechtzuerhalten. 44% der britischen Exporte gehen in die EU. Das sind 12% des BSP des Landes. Besonders dramatisch wäre ein Verlust des Binnenmarktzugangs für die Londoner Finanzindustrie. Ohne „europäischen Pass“, der ihr ein Tätigwerden nach den Regeln des Herkunftslandes ermöglicht, drohen ein Verlust von bis zu 35.000 Arbeitsplätzen und von Umsätzen in der Größenordnung von 18-20 Mrd. £ p.a. sowie Steuerausfälle in Höhe von 3-5 Mrd. £ p.a.

Was ist die Interessenlage der EU ?

Auf Seiten der Union steht das Interesse im Vordergrund, eine politische und/oder wirtschaftliche Schwächung der Gemeinschaft durch den Austritt des Vereinigten Königreiches zu vermeiden bzw. die Gemeinschaft durch diesen Austritt möglichst sogar noch stärker zu machen. Ein Aspekt dieses Interesses geht dahin, kein „Europa à la carte“ für einzelne Mitgliedstaaten zuzulassen. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass das Beispiel des Vereinigten Königreichs Schule machen und andere Länder versucht sein könnten, ebenfalls einen Sonderstatus zu verhandeln. Aus der Warte der EU und ihrer Bediensteten geht es sicher auch um den Erhalt von Kompetenzen und Positionen.

Die beste Nichteinigungsalternative (BATNA) der EU ist das Spiegelbild der BATNA des Vereinigten Königreichs: Vor der Austrittserklärung bliebe das Land nach gescheiterten „Schattenverhandlungen“ ein EU-Vollmitglied. Nach dieser Erklärung und gescheiterten Verhandlungen über ein AAK würde es zu einem Drittstaat. Diese Perspektive ist auch für Europa nicht rosig: Die EU verlöre ein beitragsstarkes Mitglied. Sie verlöre aber auch ein stabilisierendes politisches Gewicht in dem Kräfteverhältnis zwischen Deutschland einerseits sowie Frankreich andererseits.

Was die der Mitgliedsstaaten?

Diese sind sehr unterschiedlich gelagert. Stark exportorientierten Nationen wie Deutschland ist sicher an einer Aufrechterhaltung eines möglichst reibungslosen Handels mit dem Vereinigten Königreich gelegen. Südländer (einschließlich Frankreich) mögen ein Interesse an einer Ausweitung von EU-Budgets und der Ausgaben-/Investitionspolitik der EU bei gleichzeitiger Schwächung einer fiskalischen Kontrolle der Mitgliedstaaten haben. Für die Visegrád-Staaten ist, ebenso wie für das Vereinigte Königreich, die Begrenzung der (illegalen) Immigration von zentraler Bedeutung.

Was spricht für den Einsatz von Mediation bei diesen komplexen Verhandlungen?

Mediation ist Verhandlungsunterstützung durch einen neutralen Dritten, der keine Entscheidungskompetenz besitzt. Unbestritten dürfte nach dem bereits Ausgeführten sein, dass der Brexit zu einer Vielzahl sehr komplexer Verhandlungen führen wird. Involviert sind viele Parteien mit sehr heterogenen Interessen. Die Parteien wiederum sind größtenteils nicht „monolithisch“, sondern ihrerseits durch eine Vielzahl von Beteiligten mit teilweise höchst unterschiedlichen Interessen gekennzeichnet – man denke nur an die EU oder die WTO. Es ist offensichtlich, dass diese Komplexität enorme Herausforderungen an das Verhandlungsmanagement stellt – Herausforderungen, die auch oder gerade Verhandlungsprofis dazu bringen sollten, über Unterstützung durch Dritte nachzudenken.

Das gilt schon dann, wenn man allein die Verhandlungen des Vereinigten Königreichs mit der EU in den Blick nimmt. Sowohl das AAK als auch neue Handels- und Kooperationsabkommen werden viele tausend Themen und Verhandlungspunkte umfassen. Keiner der Verhandlungsbeteiligten ist neutral/unabhängig – alle haben Eigeninteressen, die sie verfolgen. Das Potential für eine Verfahrenssteuerung durch neutrale Dritte liegt auf der Hand. Sie können den Beteiligten helfen, in einem effizienten Prozess wertschöpfende Lösungen zu finden.

Wird es zum Einsatz von Mediation kommen?

Das Brexit-Referendum der Briten hat Europa in eine Krise gestürzt. Krisen bergen das Potential für Desaster – aber auch für eine konstruktive Neuausrichtung. Viel wird davon abhängen, ob es gelingt, den Austrittsprozess konstruktiv und interessengerecht zu steuern. Dazu gehört auch, die Beteiligten jederzeit mit den für alle negativen Konsequenzen eines Austritts zu konfrontieren und diese gegebenenfalls doch noch zu einer Kursrevision zu motivieren.

Die anstehenden Verhandlungen sind zahlreich und hochkomplex. Es liegt deshalb nahe, die Verhandlungen mediativ zu begleiten. Das Potential für die Mediation in diesem Kontext ist enorm. Die ihr entgegenstehenden Hindernisse sind es (leider) auch: Überoptimismus von Politikern hinsichtlich ihrer Fähigkeiten zum professionellen Verfahrensmanagement, Unterschätzung des diesbezüglichen Potentials der Mediation, Furcht vor Kontrollverlust – um nur einige wenige zu nennen. Mediatoren wissen, dass sich jedes dieser Hindernisse überwinden lässt. Die nötige Aufklärungs- und Informationsarbeit ist mühsam. Gleichzeitig steht im Hinblick auf den Brexit viel auf dem Spiel: für das Vereinigte Königreich, Europa und die Welt. Das sollte uns allen ein entsprechendes Engagement wert sein.

Gibt es noch etwas, das Sie unseren Lesern noch mitteilen möchten?

Nach meinem Eindruck besteht hinsichtlich der Mediation in Deutschland eine merkwürdige Schieflage: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die sehr von ihrem Nutzen überzeugt sind und teilweise sehr dogmatisch bestimmte Mediationsmodelle als richtige Methode propagieren und geradezu durchsetzen wollen. Auf der anderen Seite stehen die vielen Konfliktparteien auf unterschiedlichen Gebieten, die eine pragmatische und kompetente Lösung ihres Konflikts erhoffen – und häufig nicht bekommen. Ich möchte der deutschen „Mediationsszene“ empfehlen, sich weniger mit sich selbst und mehr mit den Nachfragern nach Streitbeilegungskompetenz zu befassen. Was brauchen unsere Kunden? Was hilft ihnen? Was nicht ? Das wäre ein Ansatz, der dem mediativen Gedanken entspricht.

Herr Prof. Dr. Eidenmüller, wir danken Ihnen für das Gespräch. Das Gespräch führte unser Vorstandsmitglied Viktor Müller.

Hinweis: Die Schriftfassung des angesprochenen Vortrages von Prof. Dr. Eidenmüller wird in Heft 12/2016 der Zeitschrift für Konfliktmanagement (ZKM) erscheinen.