Im Gespräch mit Professor Dr. Stefan Haupt

Aug 2, 2021

Professor Dr. Stefan Haupt ist Rechtsanwalt, Mediator und Datenschutzbeauftragter. Seit 2020 ist er Honorarprofessor für Urheberrecht an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig (Weitere Informationen zu Prof. Dr. Haupt finden Sie in Wikipedia).

Wie wichtig und zukunftsfähig ist das Thema Mediation für unsere Gesellschaft heute aus Ihrer Sicht?

Zu Beginn der diesjährigen Fußball-Europameisterschaft wurde erneut ersichtlich, dass weite Teile unserer Gesellschaft nur auf den Sieg aus sind. Wenn es um Konflikte geht – egal ob privat, im politischen Diskurs oder gewerblich – wird vorrangig auf gerichtliche Lösungen zurückgegriffen, um sich am Ende mit seinem Standpunkt durchzusetzen: Man will gewinnen – egal, um welchen Preis. Der Mediation steht diese Einstellung diametral entgegen: Sie fordert eine gemeinsame und eigenverantwortliche Konfliktlösung mit dem Ziel, für alle Seiten ein gutes, das beste Ergebnis zu erreichen. Das ist mehr als ein Kompromiss oder ein Urteil. Die Mediation ermöglicht Ergebnisse, die über die Summe der Einzelelemente hinausgeht. Unserer alternativlosen, auf Sieg konditionierten Mentalität ist dieses Verständnis, ist die Mediation fremd.

Unverständlich ist, warum in anderen Kulturen entwickelte Modelle zur außergerichtlichen Lösung von Konflikten, wie z. B. Dorfälteste oder Friedensrichter als „Paralleljustiz“ bezeichnet werden, statt sie als Kulturleistungen anzuerkennen. Sollte man sich nicht vielmehr die Frage stellen, ob vielleicht andere Kulturen schon vor Jahrhunderten erkannt haben, dass es nachhaltiger ist, Konflikte gemeinsam zu lösen, anstatt auf den Rechtsstaat und die damit einhergehende Möglichkeit zu verweisen, den Streit durch einen unbeteiligten Dritten entscheiden zu lassen?

Die Mediation kann unserer Gesellschaft Eigenverantwortung, Selbstreflektion und Gemeinschaftssinn näherbringen – Werte, welche die Gesellschaft als Ganzes nur verbessern können. In unserer auf Sieg und Gewinn fokussierten Gesellschaft erfordert es einen anderen Blick auf den Sinn des Zusammenlebens, wenn man die Frage beantwortet, ob man tatsächlich immer bzw. um jeden Preis – z. B. zu Lasten der Umwelt oder der Nachhaltigkeit – gewinnen muss. Es geht darum, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und darauf aufbauend Konflikte zu lösen, wo berechtigte Bedürfnisse anderer in Widerstreit geraten.

Der dominante gesellschaftliche Gewinntrieb wird sich meines Erachtens nach nur langsam wandeln. Es ist daher umso wichtiger, auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten. Das wird eine gehörige Kulturanstrengung erfordern.

Wie sehen Sie Mediation in Deutschland im internationalen Vergleich, insbesondere im europäischen Ausland?

Die Mediation in Deutschland befindet sich immer noch in einem bedauernswerten Zustand. Im Juli 2017 wurde der Mediationsbericht der Deutschen Bundesregierung veröffentlicht. Darin ging es um die Frage, ob und in welchem Umfang Mediation in den Alltag integriert wurde. Festgestellt wurde, dass der Rechtsweg immer noch bei weitem bevorzugt wird. Mediation bietet in Deutschland nur geringe Verdienstmöglichkeiten und viele hauptberufliche Mediatoren sind überwiegend in der Ausbildung bzw. Fortbildung tätig. Die Mediation wird als eine Möglichkeit der alternativen Konfliktbeilegung trotz einiger Ankerpunkte in der ZPO weder gelebt noch entsprechend beworben. Stattdessen finden wir einen Ausbildermarkt, der überwiegend die Standards der Ausbildung in den Fokus der politischen Diskussion stellt, wenn es um die Etablierung der Mediation als weiteres Instrument der Konfliktbeilegung geht. Das ist umso erstaunlicher, weil gemäß Artikel 9 der Mediationsrichtlinie für die Mitgliedstaaten die Pflicht besteht, die breite Öffentlichkeit darüber zu informieren, wie mit Mediatoren bzw. Organisationen, die Mediationsdienste erbringen, Kontakt aufgenommen werden kann. Die Mediationsausbilder könnten durch einen anderen Fokus ihrer Diskussionsbeiträge einen wertvollen Beitrag leisten, statt gebetsmühlenartig immer wieder um das eigene Geschäftsmodell zu kreisen[1].

Im europäischen Ausland sieht es – anders als im Fußball – allerdings nicht besser aus. Die erste weitreichende Studie zum Erfolg der Mediation innerhalb der EU gab es 2011[2] – drei Jahre nach der Annahme der EU-Mediationsrichtlinie. Danach wurde in weniger als einem von eintausend Fällen die Mediation als Verfahren genutzt. Eine weitere Studie aus 2014 zeigte kaum Fortschritt.[3] Nach dem Stand von Ende 2013 wurden in dem Großteil der Staaten weniger als 500 Mediationsfälle pro Jahr durchgeführt. Einzig Italien meldete über 10.000 jährliche Mediationsfälle. Italiens Erfolg in der Durchsetzung von Mediation ist der Regelung geschuldet, dass der Gesetzgeber für viele Arten von gerichtlichen Verfahren mindestens eine Mediationssitzung vorgeschrieben hat. Durch diese Maßnahmen ist in Italien auch die Anzahl an freiwilligen Mediationen angestiegen.

Sie beschäftigen sich intensiv mit dem Urheberrecht und der Umsetzung der sogenannten DSM-Richtlinie (Directive on Copyright in the Digital Single Market) der Europäischen Union. Welche Ziele werden mit dieser Richtlinie verfolgt?

Allgemein gefasst soll die DSM-Richtlinie das Europäische Urheberrecht an die digitale Gesellschaft anpassen. Dazu zählt unter anderem, Urhebern und Rechtsinhabern die Mediation als einen Weg zur Lösung von Konflikten nahe zu bringen.

Ähnlich wie im Arbeits- und Verbraucherschutzrecht versucht der deutsche Gesetzgeber spätestens seit Beginn der Diskussion um die Schaffung eines Gesetzes zur Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern, das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Urhebern und Verwertern zu beseitigen. Dieses strukturelle Ungleichgewicht soll nun durch die Umsetzung der DSM-Richtlinie beseitigt werden. Konkret wird Mediation für die Geltendmachung der folgenden Ansprüche ermöglicht:

  • der angemessenen Vergütung gemäß § 32 UrhG
  • der weiteren Beteiligungen gemäß § 32a UrhG
  • der Vergütung für später bekannte Nutzungsarten gemäß § 32c UrhG
  • von Auskunfts- und Rechenschaftsansprüchen gegenüber dem Vertragspartner gemäß § 32d UrhG sowie
  • von Auskunfts- und Rechenschaftsansprüchen gegenüber den innerhalb der Lizenzkette beteiligten Dritten gemäß § 32e UrhG

Außerdem wird Rechtsinhabern gemäß § 35a UrhG im Zusammenhang mit Vertragsverhandlungen in Bezug auf die Einräumung von Nutzungsrechten für die öffentliche Zugänglichmachung von audiovisuellen Werken über Videoabrufdienste – wie z. B. Netflix und Sky Ticket – ermöglicht werden, ein Mediationsverfahren einzuleiten.

Mediations In The Eu (2013), http://www.europarl.europa.eu/thinktank/en/document.html?reference=IPOL-…(2014)493042

Welche Vorteile bietet aus Ihrer Sicht die Mediation gegenüber anderen Verfahren, wenn es um die Beilegung von Urheberrechtskonflikten geht?

Ein Prinzip der Mediation besteht in der Eigenverantwortlichkeit bei der Lösung von Konflikten. Das hat eine Entlastung der Gerichte zur Folge. Durch die Förderung von Mediation wird das staatstragende System der Jurisdiktion verlassen. Man könnte daraus schlussfolgern, dass das bestehende System versagt hat. Dafür spricht der erste Satz von Erwägungsgrund 79 der DSM-Richtlinie über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt. Dieser lautet:

„Urheber und ausübende Künstler scheuen häufig davor zurück, ihre Rechte gegenüber Vertragspartnern vor einem Gericht einzuklagen.“

Daraus ergeben sich folgende Vermutungen:

  • Es gibt kein Vertrauen in das bestehende Rechtssystem.
  • Er werden Nachteile befürchtet (Blacklisting), wenn man es wagt, gegenüber dem wirtschaftlich stärkeren Vertragspartner Ansprüche gerichtlich geltend zu machen.
  • Alle fürchten sich vor dem Urteil, weil niemand weiß, ob es den eigenen Erwartungen entspricht.
  • Der Glaubenssatz, dass niemand weiß, was auf hoher See und vor Gericht geschieht, charakterisiert treffend die Befürchtungen der Rechtsuchenden.
Alternative Streitbeilegungsverfahren wie z. B. die Mediation sollen dazu ermutigen, die im Rahmen der Urheberrechtsrichtlinie enthaltenen Rechte und Ansprüche geltend zu machen und damit auch durchzusetzen.

Ein zusätzlicher Vorteil der Mediation besteht darin, dass die uns Menschen eigenen Emotionen angemessen berücksichtigt werden können. Das steht unserem Rechtssystem diametral entgegen, das Emotionen als nicht justiziabel ansieht. Ein Urheber ist indes in besonderer Weise mit seinem Werk verbunden. Es entspringt u. a. seiner kulturellen Verwurzelung, seiner intellektuellen Erkenntnisfähigkeit, seiner Kreativität – kurzum seiner Persönlichkeit mit ihren Widersprüchen, Zweifeln, emotionalen Schwankungen und Informationeneindrücken. Die Mediation kann als einziges Instrument durch ihre Struktur und ihre Grundsätze eine solche Komplexität bewältigen. Sie kann die Funktionalität des Konfliktes nutzenorientiert transformieren, um ein breites Commitment der an ihm Beteiligten herzustellen. Die entscheidenden Schlüssel dafür sind die Übernahme von Eigenverantwortung sowie die gegenseitige Rücksichtnahme. Das wird in der Mediation aus meiner Sicht in den Fokus gestellt; Konfliktbeteiligte müssen bereit sein, sich darauf einzulassen.

Wie hoch wäre nach Ihren Erfahrungen die Bereitschaft der Beteiligten, in solchen Konflikten eine Mediation einem Rechtsstreit vorzuziehen?

In der Mediation wird Eigenverantwortung gelebt. In unserer gegenwärtigen Gesellschaft findet dieses Konzept – zumindest in Bezug auf Streitigkeiten – wenig Platz. Konfliktparteien beauftragen Anwälte und beginnen Gerichtsprozesse: Die Verantwortung wird dadurch abgegeben.

Die Bereitschaft für Mediation in unserer Gesellschaft ist aus meiner Sicht zu gering. Um diese zu schaffen, muss zuerst das Vertrauen der Rechtssuchenden in die Mediation gestärkt werden.

Was müsste aus Ihrer Sicht getan werden, damit von der Mediation in Urheberrechtsstreitigkeiten mehr Gebrauch gemacht wird?

Gemäß Art 9 der Mediationsrichtlinie besteht für die Mitgliedstaaten die Pflicht, die breite Öffentlichkeit darüber zu informieren, wie mit Mediatoren bzw. Organisationen, die Mediationsdienste erbringen, Kontakt aufgenommen werden kann. Dieser Pflicht ist Deutschland bisher nur unzureichend nachgekommen. Es könnte sogar argumentiert werden, dass die Prozessfreudigkeit unserer Gesellschaft nur weiter angetrieben wurde. Medial wird heute mehr auf den Rechtsstaat und die Alternativlosigkeit eines eingeschlagenen Weges verwiesen, anstatt die Verpflichtung zu erfüllen, die Mediation zu bewerben und zu befördern.

Mit der Pressemitteilung vom 20.09.2019 hat das BMJV über den Beginn der bundesweiten Kampagne „Wir sind Rechtsstaat“ berichtet. Es suggeriert damit, dass jeder Bürger die Möglichkeit hat, seine Ansprüche mit Hilfe der Gerichte durchzusetzen. Es stellt sich die Frage, ob es für die Erreichung des Rechtsfriedens nicht besser gewesen wäre, wenn seitens des BMJV der Hinweis gegeben worden wäre, vor Beginn einer gerichtlichen Auseinandersetzung erst einmal durchzuatmen und bei einer Tasse Kaffee mit einem Vertrauten bzw. der anderen Konfliktpartei nach einer Lösung zu suchen. Sollte das nicht gelingen, bestünde die Möglichkeit, einen Mediator hinzuzuziehen.

Würde Deutschland seiner Informationspflicht bezüglich der Mediation nachkommen, wäre das ein guter Anfang. Dabei müsste klar kommuniziert werden, dass es sich bei der Mediation um ein Verfahren handelt, das die eigenverantwortliche Lösung eines Konfliktes zum Ziel hat. Auf keinen Fall darf der Eindruck entstehen, dass der Mediator eine verbindliche Lösung vorschlägt oder seine persönliche Meinung zum Konflikt kundtut und durchsetzt.

Möchten Sie unseren Lesern noch etwas mitteilen?

Um einen effektiven Wandel der Gesellschaft zugunsten der Mediation zu erreichen, muss der integrative Kern, welcher der Mediation innewohnt, aus meiner Sicht in folgenden Bereichen angegangen werden:

In der Politik muss ein Wandel zur Alternative zum Ausdruck kommen. Die Politik ist derzeit mehr durch das Festhalten an Positionen, moralische Belehrungen und Konfrontationen geprägt als durch die Suche nach Möglichkeiten der Zusammenarbeit zum gemeinsamen Vorteil – und letzten Endes zum Nutzen der Bürger.

Vor jeder Landtags- oder Bundestagswahl erfährt der Wähler, wer mit wem auf gar keinen Fall zusammenarbeitet und wo die roten Linien sind, die keinesfalls überschritten werden. Es werden Verhandlungspositionen aufgebaut. Bei dem „Stellungsspiel“ hofft jede politische Partei auf einen Verhandlungsvorteil, weil sie sich medienwirksam und unnachgiebig auf die eigene Verhandlungsposition berufen hat. Sie suggeriert, dass die Parteibasis keinem anderen Weg, Programm oder Ziel zustimmen würde. Von den Parteien bzw. den Politikern wird inzwischen nicht mehr nur noch vor Wahlen die Aussage getroffen, dass die eigene Position, Sichtweise oder Bewertung alternativlos sei. Es wird von vornherein der Eindruck erweckt, dass es gar nicht möglich ist, nach einer alternativen Lösungsmöglichkeit zu suchen. Diese „Alternativlosigkeit“ hat zur Konsequenz, dass es keinen Raum mehr für eine Mediation gibt. Dabei wird übersehen, dass bei einer solchen Ausgangsposition kein Verhandlungsspielraum mehr besteht. Der Weg für eine gemeinsame Lösung ist verbaut. In diesem Fall rückt die Mediation – als Möglichkeit der Suche nach einer gemeinsamen Lösung – in weite Ferne.

Viel lösungsorientierter wäre es, wenn jede politische Partei, die in einem Wahlkampf antritt, sagen würde, dass sie sich freut und darauf hofft, einen Partner zu finden, mit dem das eigene Programm bzw. Teile davon im Interesse der Bürger dieses Landes umgesetzt werden kann. Das wäre ein Mediationsansatz: freiwillig, vertraulich, neutral, informiert und eigenverantwortlich nach einer Lösung bzw. einem Programm, Arbeitsplan und Roadmap für die Wahlperiode zu suchen.

Es geht offensichtlich primär nicht darum, Probleme gemeinschaftlich zu lösen oder gar Konflikte zu vermeiden, sondern darum, die eigene Position zu behaupten und durch-zusetzen bzw. so wenig wie möglich zu verlassen.

Diese negative Vorbildwirkung, die ausnahmslos von allen Parteien ausgeht, steht einer gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz der Mediation, Konflikte lösungsorientiert beizulegen, diametral entgegen. Solange sich daran nichts ändert, wird die Mediation in unserer Gesellschaft keinen weitgehenden Halt finden.

Ein weiteres Momentum ist die Art und Weise der medialen Berichterstattung zu Konflikten gleich welcher Art in den privaten und öffentlich-rechtlichen Medien und den sozialen Netzwerken. Meine Wahrnehmung ist, dass Einordnungen in gut oder schlecht (pro oder contra) bzw. eine bedenkenlose Übernahme zeitgeistlichen Mainstreams zunehmen. Dadurch wird der Erkenntnisprozess in der Regel allein auf die Bewertung reduziert, statt den Lesenden, Zuhörenden oder Zuschauenden das Beobachtete neutral zu vermitteln und für sie unterschiedliche Interpretationsvarianten offen zu lassen. Die digital gelenkte Kommunikation wird bevorzugt. Damit lassen sich mehr Nachrichten schneller verbreiten. Im selben Zug wird die analoge Kommunikation zurückgedrängt. Unklar ist, wer bzw. was darüber entscheidet, ob ein Ereignis nachrichtenwürdig ist. Ich würde mir hier auch mehr Berichterstattungen dazu wünschen, wie erfolgreiche Konfliktvermittlung aussehen kann – bei uns und in anderen Rechtskulturen.

Schließlich wären die Kulturschaffenden gefordert, ihr künstlerisches Potential zu nutzen, die Mediation als Weg zu beschreiben, der dysfunktionale Konflikte in funktionalen Streit transformiert. Was wäre besser geeignet als ein Bild, eine Skulptur, ein Film, ein Lied, ein Roman oder ein Theaterstück? Damit bin ich wieder beim Urheberrecht angelangt.

Herr Professor Dr. Haupt, wir bedanken uns sehr für das informative und interessante Gespräch.

Das Interview führte Robert Glunz, Mitglied des Vorstands der Deutschen Stiftung Mediation.